Joseph Pulitzers erstes Editorial in der New York World im Jahre 1883 ist ein Manifest für die Unabhängigkeit der Medien: Journalist:innen müssen sich ihre Unabhängigkeit bewahren und sind dem Allgemeinwohl verpflichtet. In Deutschland ist die Gemeinwohlorientierung des ö/r Rundfunks spätestens seit der Einführung des Dualen Systems Mitte der 1980er Jahre unter Quotendruck geraten, der sich seither als bestimmender Maßstab in fast allen Medien zeigt. Vierzig Jahre später stehen wir an einem Scheideweg – zwischen einer den Marktradikalen überlassenen Gesellschaft und einer gemeinwohlorientierten Demokratie.
Welchen Weg wollen wir einschlagen?
Die digitale Transformation birgt Vorteile und Chancen. Sie bringt aber zugleich Risiken und Gefahren mit sich. Heute wissen wir: Insbesondere die ausschließlich am Gewinn orientierten „sozialen Medien“ wirken wie Erregungsmaschinen. Emotionale Zuspitzung, Wut und Empörung lassen die Kassen der Plattformbetreiber klingeln, steigern die Quote und atomisieren die Gesellschaft. Dafür geraten Wahrheit, Genauigkeit, Anspruch und Differenzierung ins Hintertreffen. Das gilt ebenso für individuelle und künstlerisch verdichtete Blicke auf die Welt. Diese Dynamik hat sich in den letzten Jahren zum zentralen Problem für die Demokratie entwickelt
Erschwerend kommt hinzu: Hass, Lügen, Propaganda und belangloser Boulevard sind im Netz frei verfügbar. Dagegen verschwindet ein großer Teil der Qualitätsinhalte nach kurzer Auswertungszeit hinter Bezahlschranken oder im Archiv. Bei privaten Angeboten ist das nachvollziehbar, nicht aber bei öffentlich-rechtlichen Angeboten, die ja immerhin mit öffentlichen Mitteln finanziert wurden.
Nun geht es darum, ein Gegengewicht zu schaffen. Auf allen verfügbaren Kanälen müssen Qualitätsinhalte ein Gegengewicht bilden können, um medialer Desinformation, Lüge, Hetze und Propaganda wirkungsvoll zu begegnen. Eine lebendige Demokratie braucht dokumentarische Medien höchster Qualität, größtmöglicher thematischer und formaler Vielfalt, unbedingter Glaubwürdigkeit und langfristiger Verfügbarkeit.
Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung von 2017 bringt es auf den Punkt (OBS 2017: S. 30):
„Wer die Glaubwürdigkeit der Medien hoch einschätzt, ist umgekehrt auch mit dem Funktionieren der Demokratie hoch zufrieden. Umgekehrt gilt, wer Medien als unglaubwürdig einstuft, ist höchst unzufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie.“
Eine international vergleichende Studie aus den USA belegt eindrucksvoll, wie wichtig mit öffentlichen Mitteln finanzierte unabhängige Medien für das Gelingen der Demokratie sind.
Docs for Democracy ist als Konzept für ein neues Produktions- und Auswertungsmodell gedacht, das für diese Herausforderungen eine gute Lösung anbietet, von der alle Beteiligten etwas haben. Docs for Democracy steht also für eine deutliche Kehrtwende, weg von jeder ökonomischen Verwertungslogik, hin zu einem wieder kompromisslos am Gemeinwohl orientierten Ansatz.
1.1 Medien für das Gemeinwohl – was soll das sein?
Der „Gemeinwohl Deutschland Atlas“ gibt einen Überblick über verschiedene Aspekte der Gemeinwohldebatte und macht deutlich, dass Qualität in journalistischen und medialen Angeboten ein wesentliches Kriterium der Gemeinwohlwahrnehmung darstellt. Reichweiten und Quoten haben hingegen per se keine Bedeutung für das Gemeinwohl. Medien leisten vielmehr einen Beitrag zum Gemeinwohl, wenn sie in den folgenden vier Bereichen beim Bürger punkten:
- glaubwürdige Wissensvermittlung
- Schaffung eines positiven Selbstbildes und Hilfe bei geistiger Orientierung
- Ermöglichung sozialer Teilhabe
- qualitätsvolle Unterhaltung
Diese Aspekte sind zentral für die Förderlogik von Docs for Democracy. Dabei sind sie offen genug, um ein breites Förderspektrum sicherzustellen. Qualitätsmedien leisten einen entscheidenden Beitrag zum Gemeinwohl, indem sie durch Wissenserwerb, soziale Teilhabe und Unterhaltung zu einem positiven Selbstwertgefühl und zu demokratischer Daseinsvorsorge beitragen. Ein Quotenerfolg ist damit keinesfalls ausgeschlossen, er begründet aber nicht den Erfolg einer Produktion. Schon das bloße Vorhandensein von gemeinwohlorientierten Qualitätsmedien schafft Vertrauen und die Sicherheit von größtmöglicher Verlässlichkeit der übermittelten Informationen und Perspektiven. Und zwar auch dann, wenn sie nicht andauernd konsumiert werden können. Entscheidend ist, dass man im Zweifelsfall weiss, wo sie zu finden sind. Und daher ist die dauernde Auffindbarkeit dieser Medien auf allen verfügbaren Plattformen sowie ihre klare Kenntlichkeit eine dringende Notwendigkeit für die demokratische Daseinsvorsorge.
1.2 Das Förderspektrum von Docs for Democracy
Gefördert werden Themen und dokumentarisch erzählte Formen, die einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten können. Docs for Democracy soll dabei diejenigen dokumentarischen Beiträge ermöglichen, die es im derzeitigen Medienangebot kaum gibt, obwohl sie als Bestandteil der demokratischen Daseinsvorsorge unerlässlich sind. Sie sollen unabhängig von ökonomischen, politischen oder Quoten-Interessen entstehen. Gefördert werden ausschließlich zeitlich begrenzte Projekte, keine Institutionen.
Die zu fördernden Medien sollen sich durch folgende dokumentarische Qualitäten auszeichnen:
- Ins Offene beobachtend, subjektiv betrachtend. Auch ohne vermeintlich objektiven journalistischen Gestus
- Nah an den Protagonisten. Verstehend. Neugierig. Unvoreingenommen. Unabhängig, Gründlich. Genau. Ausdauernd
- investigative Formen zur differenzierten Aufdeckung gesellschaftsrelevanter Missstände
- Langzeitbeobachtungen gesellschaftlicher Prozesse, sozialer Phänomene, politischer Entscheidungsfindungen oder gesellschaftlicher Transformationen, wie z.B. der Strukturwandel im Ruhrgebiet oder die Folgen der Wiedervereinigung, etc.
- Künstlerische, subjektive oder essayistische Zugänge – offene Formen
- Historische Rückblicke, auch mit Archivmaterial, die zur Einordnung der Gegenwart beitragen können
- Innovative digitale Gesprächsformate zu Wissensvermittlung in Politik, Kultur, Wissenschaften, Philosophie etc.
- Enzyklopädisch angelegte (Langzeit-)Projekte
Förderungsgeeignete Gemeinwohlaspekte sind z.B.:
- Förderung eines Verständnisses unserer kulturellen und natürlichen Umwelt, um Zusammenhänge erkennen zu können (Aspekte der Wissensaneignung)
- Arbeit an einem positiven Selbstbild, Selbstwertgefühl und moralischer Orientierung (moralischer Anspruch an das Selbst)
- Wunsch nach positiven zwischenmenschlichen Bindungen (soziale Teilhabe)
- Aufklärende Kritik an offensichtlichen Fehlentwicklungen in Politik, Gesellschaft, Umwelt, Sozialem, Bildung etc.
Folgende dokumentarischen Formate werden z.B. eher nicht gefördert:
Nachrichtenjournalismus; Aktuelle Berichterstattung; Magazinformate; Rein unterhaltende „Doku“-Formate (z.B. Zoo-Dokus, Reisefilme, Abenteuer-Reportagen); Naturwissenschaft rein als „Knalleffekt“ (z.B. „Galileo“); formal standardisierte Human Interest-Themen (z.B. „37°“, „Menschen hautnah“)1.3 Legale Intensivierung des Medieneinsatzes in Bildung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft
Nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie hat deutlich gezeigt, was dringend geboten ist: eine einfache und vor allem dauerhafte digitale Auffindbarkeit sowie der rasche und legale Einsatz von öffentlich-rechtlichen Bildungsmedien für Schule, Wissenschaft und Zivilgesellschaft.
Das zu ermöglichen, ist ein Beitrag für das Gemeinwohl und entspricht den Erwartungen von Millionen von Bürger:innen an ein zeitgemäßes öffentlich-rechtliches Mediensystem.
Die Ausgaben für den Bildungsbereich sind geradezu lächerlich niedrig, so beträgt etwa der Etat für das Bildungsprogramm ARD alpha gerade einmal 13 Mio. EUR pro Jahr und damit nur ca. 0,13% der Gesamteinnahmen der ö/r Anstalten. Dieser Betrag könnten leicht mindestens um den Faktor zwanzig gesteigert werden.
Mit Docs for Democracy sollen für den Wissens- und Bildungsbereich deutlich mehr Mittel frei werden. Im Wege der Direktbeauftragung können Medienmacher:innen dann, gemeinsam mit Bildungsträgern, den Bedarf ermitteln und zeitnah und gezielt Bildungsprogramme erstellen.
Auch der Transfer von wissenschaftlichen Fragestellungen und Wissensbereichen, – derzeit kommt das im Programm der öffentlich-rechtlichen Anstalten so gut wie gar nicht vor – wird so erheblich gestärkt.
1.4 Abbildung der Diversität von Gesellschaft in Form, Inhalt und Akteuren vor und hinter der Kamera
Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind als Akteur:innen in den Medien immer noch deutlich unterrepräsentiert. Dies kritisieren zu recht etwa etwa Pro Quote oder die Neuen Deutschen Medienmacher und das belegt auch eine aktuelle Studie über das öffentlich-rechtliche Volontärswesen. Damit sich das rasch ändern kann, soll sich die real ja längst existierende gesellschaftliche Diversität sowohl in den Förderkriterien, als auch in den Auswahlverfahren widerspiegeln.
Aber nicht nur die sich selbst reproduzierenden Strukturen in den öffentlich-rechtlichen Anstalten tragen zu einem verengten Blick bei. Darüber hinaus hat sich die Produktion von dokumentarischen Filmen schleichend zu einem prekären, finanziell hochrisikroreichen Beruf verändert, den man sich leisten können muss.
Für Docs for Democracy soll deshalb gelten: Alle Medienmacher:innen deren Projekte auf der Grundlage eines eines mehrstufigen Auswahlverfahrens in die Produktion gehen, erhalten unabhängig von Geschlecht, sozialer Herkunft, kultureller Prägung und Hautfarbe Zugang zu vollfinanzierten Produktionsmodellen.